Referat gehalten zu Beginn der Kickoff-Veranstaltung vom 17.8.2015
von Gerhard van den Bergh
Im Anfang, liebe ehemalige Kolleginnen und Kollegen, im Anfang, und das meine ich ohne blasphemischen Unterton: Im Anfang war das Netz. Anschauung und Begriff davon kamen später. Der neuzeitliche Hype, der Siegeszug des Netzes auch. Doch der Reihe nach.
Vorgängig eine Definition aus der Kybernetik, damit wir nicht mit ungedeckten Begriffen operieren: „Mit Vernetzung, Netzwerk umschreibt man im allgemeinen die Beziehung von Elementen in einem System, welche voneinander abhängen und/oder miteinander interagieren“.
Im Anfang war das Netz.
Die moderne Schöpfungsgeschichte geht von einem Urknall aus. Der soll stattgefunden haben vor etwa 13,8 Milliarden Jahren. Was vor diesem dunklen Anfang war, versuchen nicht mal die kühnsten Spekulanten sich auszumalen.
Die Folgen des Big Bang nach dieser neuzeitlichen Erzählung: Aus einer „ultradichten“ „Singularität“, aus unvorstellbar heissen „Plasmazuständen“, einer sog. strahlenden „Ursuppe“, entstanden Neutronen, Protonen, chemische Elemente, Atome, erste Sterne und Galaxien bildeten sich, kurz: Der „Big Bang“ schuf die Bedingung der Möglichkeiten von Ur-Materie und diese selbst. Und Materie ist ohne inhärente Netzstruktur nicht denkbar. Ich zitiere einen bekannten Naturwissenschaftler:
„Bereits die Ansammlung von ungeordnet sich bewegenden Wassermolekülen hat Netzstruktur. Damit ist auch alle aus diesem ‚Netzwerk’ abgeleitete Materie ein ‚Netz’: Sämtliche Atome und alle daraus resultierenden Strukturen bis zum menschlichen Gehirn mit seinen Bewusstseinsprozessen stammen letztlich von Wasserstoffatomen ab, die beim Big Bang gebildet wurden!“
Der Zustand des Universums ist letztlich unerklärlich. So dunkel wie die dunkle Materie. Und so dunkel wie die Metaphern, die für naturwissenschaftliche Hypothesen verwendet werden. Die Physik wird immer wieder auf den Stand des letzten Irrtums umgeschrieben werden müssen.
Nur eines ist gewiss: Es die wichtigste Konstante, die wir kennen, die sogenannte „Netzkonstante“. Netzstruktur ist universelles Naturgesetz. Kurz nach dem Anfang war sie da.
Das Netz ist mit Goethes Diktum das, was „die Welt im innersten zusammenhält“.
Dass der Begriff der „Netzkonstante“ in diesem erweiterten Sinn in die Forschungsliteratur einging, ist der Kantonsschule Küsnacht zu verdanken. Ihr kommt das Verdienst zu, als erste gewichtige Institution die universelle Thematik des Netzes zum Forschungsschwerpunkt gemacht zu haben.
Grosse Geister haben das schon immer gewusst, dass alles unter sich interagiert:
So schrieb Lukrez im 1. Jahrhundert vor Christus noch relativ vage in seiner „De Rerum Natura“: „Die Dinge sind es, die einander beleuchten.“
Al-Kindi, der arabische Philosoph aus dem 9. Jahrhundert in Bagdad, war schon viel differenzierter:
„Alles, was in der Welt der Elemente wirklich existiert, sendet in alle Richtungen Strahlen aus, welche die gesamte Welt erfüllen. Alles wirkt auf alles ein, Lichter, Geräusche, Farben, Magnete. Ein einziges grosses Netz aus Strahlungen liegt über allem und verbindet alles.“
Und der Häuptling Seattle (vom Stamme der Duwamish) soll in seiner grossen Rede 1854 gesagt haben:
„Alle Dinge gehören zusammen. Nicht die Menschen haben das Netz des Lebens gewoben. Wir sind nur ein dünner Faden darin. Was wir dem Netz antun, das tun wir uns selbst an. Alle Dinge sind miteinander verbunden. Alle Dinge gehören zusammen.“
Jan Assmann, der Kulturwissenschaftler und Ägyptologe aus Heidelberg, plädiert für eine „Neuorientierung der Geschichtsforschung“:
„Für eine Sinngeschichte, wie sie hier versucht wird, liesse sich kein besseres Bild finden als Borns Vision einer Geschichte der Netze. Die Menschen sind den Spinnen darin vergleichbar, die im Rahmen selbstgesponnener Netzwerke agieren. Diese Netze sind freilich unsichtbar. Sie entstehen durch Interaktion und werden nicht individuell produziert. Es sind Sinnwelten, in deren Horizont Menschen handeln, erfahren und erinnern.“
In einem Referat schliesslich über Quantenphysik, nach der jedes Objekt sowohl als Teilchen wie als Welle auftreten könne, kommt der Referent zur Quintessenz, dass „in unserer Welt alle Dinge miteinander verbunden sind“.
Wie auch immer:
Ohne Materie wären wir nicht. Materie hat Netzstruktur. Das Netz ist die Bedingung unserer Möglichkeit, unsere ontologische Basis.
Anorganische Natur ist vernetzt. Organische Natur ist vernetzt. Das Netz entwickelte sich weiter. Es dient der Natur zur Selbsterhaltung:
Waldameisen vernetzen ihre Bauten über viele Kilometer. Die Spinne baut ihr Netz zum Fangen der Beute. In der gleichen Weise braucht der Fischer sein Netz. Dem Zirkusakrobaten sichert das Netz sein Überleben.
Allen gemeinsam, von der Waldameise bis zum Trapezkünstler, ist eine instrumentelle Verwendung des Netzes zur Selbsterhaltung.
Marx fokussiert das Netz soziologisch, indem er das Individuum über seine biologische Existenz hinaus als gesellschaftliches Wesen versteht, als „das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“.
Von Beziehungsnetzen ist heute viel die Rede - nicht nur im Bundeshaus. Goethe war ein begnadeter Netzwerker, Robert Walser nicht. Man redet von semantischen Netzen. Sprache, Kommunikation, ist nur in gesellschaftlicher Vernetzung lebend. Fehlt dieses Netz, sind wir Kaspar Hausers.
Zivilisationsgeschichte ist ohne Netzstruktur unmöglich: Schon die Wikinger sollen nautische Netzwerke benutzt haben. Das römische Imperium wäre ohne gut funktionierendes Strassennetz nicht beherrschbar gewesen. Die Römer brauchten auch Kanalisationsnetze. Kreuzzüge ohne logistische und ideologische Vernetzung kann man sich nicht vorstellen.
Entscheidende technologische Weichenstellungen waren im 19. und 20. Jahrhundert der Bau von Elektrizitäts- und Bahnnetzen. Telegrafen- und Telefonnetze folgten. Für die Kartographie wurde ein virtuelles Triangulationsnetz über die Landschaft gelegt.
Nach David Gugerli, dem ETH-Ordinarius für Technologiegeschichte, der den Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft, Technik und Kultur nachgeht, dienen technische Netze dem Menschen zur Beherrschung von Natur: „Der Umgang des 19. Jahrhunderts mit Natur kann am besten als Versuch einer systematischen Naturbeherrschung durch technische Netzwerke beschrieben werden“.
Ein zivilisationsgeschichtlicher Big Bang war die Geburt des WWW, des World Wide Web im 20. Jahrhundert. Dessen globale Verbreitung ermöglicht erst die totale Vernetzung. Als ich im Frühling 2008 aus Grossbritannien mein altes iPhone 2G einführte (das in der Schweiz gar nie verkauft wurde), war die Entwicklung mit Smartphones bereits ahnbar, aber von heute aus gesehen noch in den Kinderschuhen.
Das Netz ist mittlerweile omnipräsent. Wer heute nicht vernetzt ist, fällt durch alle Maschen. Fast alle bedienen sich des Netzes. Mit zunehmender Geschwindigkeit. Das Tempo dieser Entwicklung akzeleriert. Das schnell drehende Rad lässt sich weder stoppen noch zurückdrehen.
Ein paar Zahlen in diesem Zusammenhang: Im Januar 2014 waren in 249 Ländern 3.5 Milliarden IP-Adressen (Internetprotokoll) registriert, das sind Geräteadressen, sozusagen Postanschriften für eine Identifikationen im Netz. Am meisten registrierte Geräte hatte es in den USA, am wenigsten in der Antarktis - dort nur 4.5 Tausend.
Facebook und Twitter hatten im Januar 2014 je fast eine Milliarde Nutzer, mehr als eine Million neue Accounts pro Tag kommen dazu. Auch Schweizer-Politiker „zwitschern“ mittlerweile gern von den Bäumen der „social media“.
An der Uni Zürich gibt es seit 2013 eine Forschungsstelle, welche die Sozialen Netzwerke analysiert.
Selbst wenn ich nicht über Google suche, sondern mit DuckDuckGo oder StartPage als Fischer im Netz meine aufzutauchen, werde ich zugleich gefischt. Big Data ist zum grossen Geschäft geworden. Geheime Algorithmen werten meine Datenströme aus und verkaufen das Resultat an Firmen, die versuchen, mich mit gezielter Werbung zu manipulieren. Google Analytics ist Marktleader. Aber auch andere unsichtbare Datenkraken verfolgen mich. Nicht nur die NSA und die Kantonspolizei Zürich haben potentielles Interesse an mir, auch Betrüger und Hacker. Viren, Würmer, Trojaner kursieren. Gefälschte Webseiten tauchen auf. Ich kriege nicht mehr nur plumpe Phishing-Mails. Surfer werden schon im „vorbeigehen“ infiziert, lediglich durch den Besuch einer Webseite: Drive-by-infection durch Malware.
Da nützt mir letztlich keine Firewall, kein noch so ausgeklügeltes Passwort. Selbst das Pentagon hat das erfahren.
Heute befassen sich die Neurowissenschaften mit „neuronalen Netzen“. Die Neuroinformatik als Zweig der künstlichen Intelligenz baut diese künstlich nach.
Im gigantischen Human Brain Project in Lausanne sollen alle vorhandenen neurowissenschaftlichen Erkenntnisse zusammengeführt und die Funktionsweise des Gehirns simuliert werden. Kritiker bezeichnen dieses ganze Vernetzungsprojekt als hirnrissig.
Es geistert unter Neurowissenschaftern neuerdings auch die Idee, post mortem eine Kopie unseres Bewusstseins einzuscannen. Dahinter steht die Theorie des sogenannten „Konnektoms“ (connectome), die besagt, dass all unsere Erinnerungen in den neuronalen Verschaltungen im Gehirn abgelegt sind. Wer das Muster aller Neuronen samt sämtlicher Verknüpfungspunkte auslesen kann, habe eine digitale Kopie unseres Bewusstseins. Der Präsident der Brain Preservation Foundation glaubt, dass in hundert Jahren ein Gehirn-Upload mit anschliessendem Weiterleben im Robot-Körper zum Alltag gehören werde.
Dem Netz sei Dank: Es ermöglicht uns eine Wiederauferstehung als Roboter und damit schönste Cyberfantasy.
Das Internet of Things will die virtuelle mit der realen Welt verknüpfen. Ameisengrosse Funkchips als Bindeglied sollen die totale Vernetzung ermöglichen.
Was wäre ein selbstfahrendes Auto ohne umfassende Vernetzung? Nicht mal mein GPS würde ohne Netz funktionieren. IBM freut’s: die Firma wirbt damit, zum 12. Mal hintereinander „Leader in Connectivity“ geworden zu sein.
(Übrigens: Das Nomen „connectivity“ taucht erst um die jüngste Jahrhundertwende im Oxford Dictionary auf!)
Nicht nur in den USA redet man vom „connected patient.“
Emil Zopfi, ausgebildeter Informatiker, Bergler, Schriftsteller nimmt die Erkenntnis von Gugerli von der systematischen Naturbeherrschung durch Netzwerke im 19. Jh. auf und erweitert sie:
„Nun befinden wir uns im 21. Jahrhundert und die Rede ist von Netzwerken wie nie zuvor. Alles vernetzt sich, von den alternativen Biobauern bis zum Technologiekonzern und den schreibenden Frauen. ‚Vernetzt sein’ ist heute ein rundum positiv besetzter Begriff, was am allerbesten die Werbung begriffen hat.
Wer nicht vernetzt ist, muss zumindest vernetzt denken.
[...]
Doch ich gewinne immer mehr den Eindruck, nicht nur die Natur, sondern die menschliche Natur, das heisst der Mensch selber, sei von Netzwerken beherrscht, in sie verstrickt, in ihnen gefangen. So wie der Löwe in der Fabel vom Löwen und der Maus. Die Frage ist also: Bin ich Fischer oder Fisch? Bin ich ein Fänger oder ein Gefangener? Oder beides zugleich?“
Das Zitat von Zopfi stammt übrigens aus dem Netz.
Horkheimer und Adorno (man verzeihe mir diesen ultimativen letzten Link) sind dieser Dialektik schon 1947 nachgegangen. In ihrer „Dialektik der Aufklärung“ formulierten sie gemäss Wikipedia die „These, dass sich bereits zu Beginn der Menschheitsgeschichte mit der Selbstbehauptung des Subjekts gegenüber einer bedrohlichen Natur eine instrumentelle Vernunft durchgesetzt habe, die sich als Herrschaft über innere und äussere Natur“ etablierte.
Naturbeherrschung zur Selbsterhaltung ist von allem Anfang an mit Selbstbeherrschung verknüpft gewesen. Herrschaft über Natur impliziert sowohl Herrschaft über die äussere wie die eigene innere Struktur des Menschen sowie über Mitmenschen.
Verkürzend umformuliert: Wer äussere Natur unterdrückt, unterdrückt zugleich innere Natur. Indem der Mensch die Natur beherrscht, beherrscht ihn diese. Naturbeherrschung schlägt zurück in Unterdrückung des eigenen Selbst und in die Unterdrückung anderer.
Wir sind immer zugleich Fischer und Gefischte, Spinne und Fliege, das Netz nutzend und darin gefangen.
Rolf Pfeifer, bis zu seiner Emeritierung Direktor des Labors für künstliche Intelligenz an der Uni Zürich, der immer noch als Guru der Robotik gilt, bestätigt die Abhängigkeit der Menschen vom Computer, indem er sagt: „Die Computer haben uns längst versklavt“.
Im Anfang war das Netz. Am Ende ist alles Netz. Oder fast alles:
Fehlt die Vernetzung, wird es pathologisch: „Alzheimerkrankheit“ – so Gottfried Schatz – „kann definiert werden als ein zunehmendes Defizit an Vernetzung im Gehirn“.
In diesem Sinne wünsche ich der Kantonsschule Küsnacht eine erfolgreiche Vernetzung und bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
von Gerhard van den Bergh
Im Anfang, liebe ehemalige Kolleginnen und Kollegen, im Anfang, und das meine ich ohne blasphemischen Unterton: Im Anfang war das Netz. Anschauung und Begriff davon kamen später. Der neuzeitliche Hype, der Siegeszug des Netzes auch. Doch der Reihe nach.
Vorgängig eine Definition aus der Kybernetik, damit wir nicht mit ungedeckten Begriffen operieren: „Mit Vernetzung, Netzwerk umschreibt man im allgemeinen die Beziehung von Elementen in einem System, welche voneinander abhängen und/oder miteinander interagieren“.
Im Anfang war das Netz.
Die moderne Schöpfungsgeschichte geht von einem Urknall aus. Der soll stattgefunden haben vor etwa 13,8 Milliarden Jahren. Was vor diesem dunklen Anfang war, versuchen nicht mal die kühnsten Spekulanten sich auszumalen.
Die Folgen des Big Bang nach dieser neuzeitlichen Erzählung: Aus einer „ultradichten“ „Singularität“, aus unvorstellbar heissen „Plasmazuständen“, einer sog. strahlenden „Ursuppe“, entstanden Neutronen, Protonen, chemische Elemente, Atome, erste Sterne und Galaxien bildeten sich, kurz: Der „Big Bang“ schuf die Bedingung der Möglichkeiten von Ur-Materie und diese selbst. Und Materie ist ohne inhärente Netzstruktur nicht denkbar. Ich zitiere einen bekannten Naturwissenschaftler:
„Bereits die Ansammlung von ungeordnet sich bewegenden Wassermolekülen hat Netzstruktur. Damit ist auch alle aus diesem ‚Netzwerk’ abgeleitete Materie ein ‚Netz’: Sämtliche Atome und alle daraus resultierenden Strukturen bis zum menschlichen Gehirn mit seinen Bewusstseinsprozessen stammen letztlich von Wasserstoffatomen ab, die beim Big Bang gebildet wurden!“
Der Zustand des Universums ist letztlich unerklärlich. So dunkel wie die dunkle Materie. Und so dunkel wie die Metaphern, die für naturwissenschaftliche Hypothesen verwendet werden. Die Physik wird immer wieder auf den Stand des letzten Irrtums umgeschrieben werden müssen.
Nur eines ist gewiss: Es die wichtigste Konstante, die wir kennen, die sogenannte „Netzkonstante“. Netzstruktur ist universelles Naturgesetz. Kurz nach dem Anfang war sie da.
Das Netz ist mit Goethes Diktum das, was „die Welt im innersten zusammenhält“.
Dass der Begriff der „Netzkonstante“ in diesem erweiterten Sinn in die Forschungsliteratur einging, ist der Kantonsschule Küsnacht zu verdanken. Ihr kommt das Verdienst zu, als erste gewichtige Institution die universelle Thematik des Netzes zum Forschungsschwerpunkt gemacht zu haben.
Grosse Geister haben das schon immer gewusst, dass alles unter sich interagiert:
So schrieb Lukrez im 1. Jahrhundert vor Christus noch relativ vage in seiner „De Rerum Natura“: „Die Dinge sind es, die einander beleuchten.“
Al-Kindi, der arabische Philosoph aus dem 9. Jahrhundert in Bagdad, war schon viel differenzierter:
„Alles, was in der Welt der Elemente wirklich existiert, sendet in alle Richtungen Strahlen aus, welche die gesamte Welt erfüllen. Alles wirkt auf alles ein, Lichter, Geräusche, Farben, Magnete. Ein einziges grosses Netz aus Strahlungen liegt über allem und verbindet alles.“
Und der Häuptling Seattle (vom Stamme der Duwamish) soll in seiner grossen Rede 1854 gesagt haben:
„Alle Dinge gehören zusammen. Nicht die Menschen haben das Netz des Lebens gewoben. Wir sind nur ein dünner Faden darin. Was wir dem Netz antun, das tun wir uns selbst an. Alle Dinge sind miteinander verbunden. Alle Dinge gehören zusammen.“
Jan Assmann, der Kulturwissenschaftler und Ägyptologe aus Heidelberg, plädiert für eine „Neuorientierung der Geschichtsforschung“:
„Für eine Sinngeschichte, wie sie hier versucht wird, liesse sich kein besseres Bild finden als Borns Vision einer Geschichte der Netze. Die Menschen sind den Spinnen darin vergleichbar, die im Rahmen selbstgesponnener Netzwerke agieren. Diese Netze sind freilich unsichtbar. Sie entstehen durch Interaktion und werden nicht individuell produziert. Es sind Sinnwelten, in deren Horizont Menschen handeln, erfahren und erinnern.“
In einem Referat schliesslich über Quantenphysik, nach der jedes Objekt sowohl als Teilchen wie als Welle auftreten könne, kommt der Referent zur Quintessenz, dass „in unserer Welt alle Dinge miteinander verbunden sind“.
Wie auch immer:
Ohne Materie wären wir nicht. Materie hat Netzstruktur. Das Netz ist die Bedingung unserer Möglichkeit, unsere ontologische Basis.
Anorganische Natur ist vernetzt. Organische Natur ist vernetzt. Das Netz entwickelte sich weiter. Es dient der Natur zur Selbsterhaltung:
Waldameisen vernetzen ihre Bauten über viele Kilometer. Die Spinne baut ihr Netz zum Fangen der Beute. In der gleichen Weise braucht der Fischer sein Netz. Dem Zirkusakrobaten sichert das Netz sein Überleben.
Allen gemeinsam, von der Waldameise bis zum Trapezkünstler, ist eine instrumentelle Verwendung des Netzes zur Selbsterhaltung.
Marx fokussiert das Netz soziologisch, indem er das Individuum über seine biologische Existenz hinaus als gesellschaftliches Wesen versteht, als „das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“.
Von Beziehungsnetzen ist heute viel die Rede - nicht nur im Bundeshaus. Goethe war ein begnadeter Netzwerker, Robert Walser nicht. Man redet von semantischen Netzen. Sprache, Kommunikation, ist nur in gesellschaftlicher Vernetzung lebend. Fehlt dieses Netz, sind wir Kaspar Hausers.
Zivilisationsgeschichte ist ohne Netzstruktur unmöglich: Schon die Wikinger sollen nautische Netzwerke benutzt haben. Das römische Imperium wäre ohne gut funktionierendes Strassennetz nicht beherrschbar gewesen. Die Römer brauchten auch Kanalisationsnetze. Kreuzzüge ohne logistische und ideologische Vernetzung kann man sich nicht vorstellen.
Entscheidende technologische Weichenstellungen waren im 19. und 20. Jahrhundert der Bau von Elektrizitäts- und Bahnnetzen. Telegrafen- und Telefonnetze folgten. Für die Kartographie wurde ein virtuelles Triangulationsnetz über die Landschaft gelegt.
Nach David Gugerli, dem ETH-Ordinarius für Technologiegeschichte, der den Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft, Technik und Kultur nachgeht, dienen technische Netze dem Menschen zur Beherrschung von Natur: „Der Umgang des 19. Jahrhunderts mit Natur kann am besten als Versuch einer systematischen Naturbeherrschung durch technische Netzwerke beschrieben werden“.
Ein zivilisationsgeschichtlicher Big Bang war die Geburt des WWW, des World Wide Web im 20. Jahrhundert. Dessen globale Verbreitung ermöglicht erst die totale Vernetzung. Als ich im Frühling 2008 aus Grossbritannien mein altes iPhone 2G einführte (das in der Schweiz gar nie verkauft wurde), war die Entwicklung mit Smartphones bereits ahnbar, aber von heute aus gesehen noch in den Kinderschuhen.
Das Netz ist mittlerweile omnipräsent. Wer heute nicht vernetzt ist, fällt durch alle Maschen. Fast alle bedienen sich des Netzes. Mit zunehmender Geschwindigkeit. Das Tempo dieser Entwicklung akzeleriert. Das schnell drehende Rad lässt sich weder stoppen noch zurückdrehen.
Ein paar Zahlen in diesem Zusammenhang: Im Januar 2014 waren in 249 Ländern 3.5 Milliarden IP-Adressen (Internetprotokoll) registriert, das sind Geräteadressen, sozusagen Postanschriften für eine Identifikationen im Netz. Am meisten registrierte Geräte hatte es in den USA, am wenigsten in der Antarktis - dort nur 4.5 Tausend.
Facebook und Twitter hatten im Januar 2014 je fast eine Milliarde Nutzer, mehr als eine Million neue Accounts pro Tag kommen dazu. Auch Schweizer-Politiker „zwitschern“ mittlerweile gern von den Bäumen der „social media“.
An der Uni Zürich gibt es seit 2013 eine Forschungsstelle, welche die Sozialen Netzwerke analysiert.
Selbst wenn ich nicht über Google suche, sondern mit DuckDuckGo oder StartPage als Fischer im Netz meine aufzutauchen, werde ich zugleich gefischt. Big Data ist zum grossen Geschäft geworden. Geheime Algorithmen werten meine Datenströme aus und verkaufen das Resultat an Firmen, die versuchen, mich mit gezielter Werbung zu manipulieren. Google Analytics ist Marktleader. Aber auch andere unsichtbare Datenkraken verfolgen mich. Nicht nur die NSA und die Kantonspolizei Zürich haben potentielles Interesse an mir, auch Betrüger und Hacker. Viren, Würmer, Trojaner kursieren. Gefälschte Webseiten tauchen auf. Ich kriege nicht mehr nur plumpe Phishing-Mails. Surfer werden schon im „vorbeigehen“ infiziert, lediglich durch den Besuch einer Webseite: Drive-by-infection durch Malware.
Da nützt mir letztlich keine Firewall, kein noch so ausgeklügeltes Passwort. Selbst das Pentagon hat das erfahren.
Heute befassen sich die Neurowissenschaften mit „neuronalen Netzen“. Die Neuroinformatik als Zweig der künstlichen Intelligenz baut diese künstlich nach.
Im gigantischen Human Brain Project in Lausanne sollen alle vorhandenen neurowissenschaftlichen Erkenntnisse zusammengeführt und die Funktionsweise des Gehirns simuliert werden. Kritiker bezeichnen dieses ganze Vernetzungsprojekt als hirnrissig.
Es geistert unter Neurowissenschaftern neuerdings auch die Idee, post mortem eine Kopie unseres Bewusstseins einzuscannen. Dahinter steht die Theorie des sogenannten „Konnektoms“ (connectome), die besagt, dass all unsere Erinnerungen in den neuronalen Verschaltungen im Gehirn abgelegt sind. Wer das Muster aller Neuronen samt sämtlicher Verknüpfungspunkte auslesen kann, habe eine digitale Kopie unseres Bewusstseins. Der Präsident der Brain Preservation Foundation glaubt, dass in hundert Jahren ein Gehirn-Upload mit anschliessendem Weiterleben im Robot-Körper zum Alltag gehören werde.
Dem Netz sei Dank: Es ermöglicht uns eine Wiederauferstehung als Roboter und damit schönste Cyberfantasy.
Das Internet of Things will die virtuelle mit der realen Welt verknüpfen. Ameisengrosse Funkchips als Bindeglied sollen die totale Vernetzung ermöglichen.
Was wäre ein selbstfahrendes Auto ohne umfassende Vernetzung? Nicht mal mein GPS würde ohne Netz funktionieren. IBM freut’s: die Firma wirbt damit, zum 12. Mal hintereinander „Leader in Connectivity“ geworden zu sein.
(Übrigens: Das Nomen „connectivity“ taucht erst um die jüngste Jahrhundertwende im Oxford Dictionary auf!)
Nicht nur in den USA redet man vom „connected patient.“
Emil Zopfi, ausgebildeter Informatiker, Bergler, Schriftsteller nimmt die Erkenntnis von Gugerli von der systematischen Naturbeherrschung durch Netzwerke im 19. Jh. auf und erweitert sie:
„Nun befinden wir uns im 21. Jahrhundert und die Rede ist von Netzwerken wie nie zuvor. Alles vernetzt sich, von den alternativen Biobauern bis zum Technologiekonzern und den schreibenden Frauen. ‚Vernetzt sein’ ist heute ein rundum positiv besetzter Begriff, was am allerbesten die Werbung begriffen hat.
Wer nicht vernetzt ist, muss zumindest vernetzt denken.
[...]
Doch ich gewinne immer mehr den Eindruck, nicht nur die Natur, sondern die menschliche Natur, das heisst der Mensch selber, sei von Netzwerken beherrscht, in sie verstrickt, in ihnen gefangen. So wie der Löwe in der Fabel vom Löwen und der Maus. Die Frage ist also: Bin ich Fischer oder Fisch? Bin ich ein Fänger oder ein Gefangener? Oder beides zugleich?“
Das Zitat von Zopfi stammt übrigens aus dem Netz.
Horkheimer und Adorno (man verzeihe mir diesen ultimativen letzten Link) sind dieser Dialektik schon 1947 nachgegangen. In ihrer „Dialektik der Aufklärung“ formulierten sie gemäss Wikipedia die „These, dass sich bereits zu Beginn der Menschheitsgeschichte mit der Selbstbehauptung des Subjekts gegenüber einer bedrohlichen Natur eine instrumentelle Vernunft durchgesetzt habe, die sich als Herrschaft über innere und äussere Natur“ etablierte.
Naturbeherrschung zur Selbsterhaltung ist von allem Anfang an mit Selbstbeherrschung verknüpft gewesen. Herrschaft über Natur impliziert sowohl Herrschaft über die äussere wie die eigene innere Struktur des Menschen sowie über Mitmenschen.
Verkürzend umformuliert: Wer äussere Natur unterdrückt, unterdrückt zugleich innere Natur. Indem der Mensch die Natur beherrscht, beherrscht ihn diese. Naturbeherrschung schlägt zurück in Unterdrückung des eigenen Selbst und in die Unterdrückung anderer.
Wir sind immer zugleich Fischer und Gefischte, Spinne und Fliege, das Netz nutzend und darin gefangen.
Rolf Pfeifer, bis zu seiner Emeritierung Direktor des Labors für künstliche Intelligenz an der Uni Zürich, der immer noch als Guru der Robotik gilt, bestätigt die Abhängigkeit der Menschen vom Computer, indem er sagt: „Die Computer haben uns längst versklavt“.
Im Anfang war das Netz. Am Ende ist alles Netz. Oder fast alles:
Fehlt die Vernetzung, wird es pathologisch: „Alzheimerkrankheit“ – so Gottfried Schatz – „kann definiert werden als ein zunehmendes Defizit an Vernetzung im Gehirn“.
In diesem Sinne wünsche ich der Kantonsschule Küsnacht eine erfolgreiche Vernetzung und bedanke mich für die Aufmerksamkeit.